Alle zwei Jahre legen das gemeinnützige Verkehrsbündnis Allianz pro Schiene und der Branchenverband VDV aktualisierte Vorschläge für Strecken-Reaktivierungen vor. Am 14. Oktober 2024 war es wieder soweit: Seit 2022 sind 74 Strecken mit insgesamt 949 km neu auf der Vorschlagsliste hinzugekommen. Martin Henke, VDV-Fachmann Reaktivierung, erläuterte: „Es ist klar, mit Reaktivierungen allein werden wir die großen ökonomischen und verkehrlichen Herausforderungen in Deutschland nicht bewältigen – und doch warten wir inzwischen bei 325 Strecken mit 5426 km Länge auf die Umsetzung der Reaktivierung. Das könnte die Wirtschaft gerade auf regionaler Ebene erheblich stärken.“
379 Städte und Gemeinden ohne Zugang zur Schiene
Im gesamten Jahr 2024 werden voraussichtlich nur 30 km Schienenwege reaktiviert. Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, sagte: „Angesichts dieses Schneckentempos müssen Bund und Länder dringend mehr tun, um Initiativen vor Ort zu unterstützen. Die Menschen wollen eine Schienenanbindung. Auch für den Schienengüterverkehr gibt es großes Potenzial.“ 379 Städte und Gemeinden ohne Zugang zum Schienenverkehr könnten durch die vorgeschlagenen Reaktivierungen wieder Anschluss an das Bahnnetz erhalten. Allein in diesen Kommunen wohnen mehr als 3,8 Mio. Menschen – das entspricht der Einwohnerzahl von Berlin.
Derzeit sind in Deutschland 123 der 900 Mittelzentren ohne Anschluss an die Eisenbahn, U-Bahn, Stadtbahn oder Straßenbahn, darunter 13 Kreisstädte. In 119 der nicht angeschlossenen Mittelzentren sind für die Eisenbahn gebaute, aber nicht mehr genutzte Trassen vorhanden. Für 72 dieser Mittelzentren schlagen die Allianz pro Schiene und der VDV eine Wiederanbindung an den Eisenbahnverkehr vor, bei 13 weiteren empfehlen sie eine vertiefte Prüfung. Allein in diesen Zentren leben über 1,4 Mio. Menschen. Die Top 10 der Mittelzentren, deren Anschluss an das SPNV-Netz empfohlen wird, sind Bergkamen (NRW; 48.725 Einwohner), Aurich (NI; 41.991 Einwohner), Würselen (NRW; 38.712 Einwohner), Niederkassel (NRW; 38.218 Einwohner), Kamp-Lintfort (NRW; 37.391 Einwohner), Wermelskirchen (NRW; 34.765 Einwohner), Hemer (NRW; 34.080 Einwohner), Stuhr (NI; 33.678 Einwohner), Geesthacht (SH; 30.551 Einwohner) und Taunusstein (HE; 30.005 Einwohner).
Hebelwirkung Gemeinde-Verkehrs-Finanzierung
„Im Gemeinde-Verkehrs-Finanzierungs-Gesetz (GVFG) haben die Verkehrsunternehmen mehr Infrastrukturprojekte zur Förderung angemeldet als je zuvor“, so Martin Henke. Das Gesetz wurde im Jahr 2020 novelliert und finanziell aufgestockt. Dadurch ist inzwischen eine Verdreifachung der angemeldeten Projekte zu verzeichnen. Zuletzt waren im GVFG insgesamt 407 Projekte aus den Bereichen „Grunderneuerung“, „Reaktivierung“, „Elektrifizierung“ und „Bahnhöfe, Stationen, Haltestellen“ angemeldet. Henke: „Wir müssen sehen, dass der immense finanzielle Bedarf bei der maroden Infrastruktur in Deutschland finanziell abgedeckt wird – alles andere schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Das Erhöhen der GVFG-Fördermittel auf 3 Mrd. jährlich ab 2025 hätte eine extreme Hebelwirkung, um unsere Infrastrukturen schneller ausbauen zu können.“
Die Top 10 der zu reaktivierenden Strecken (geordnet nach zu erschließender Einwohnerzahl pro Strecken-km) sind:
- Tornesch – Uetersen (SH; 6165 Einwohner pro Strecken-km),
- Wolfratshausen – Geretsried (BY; 5055),
- Abelitz – Aurich (NI; 4643),
- Iserlohn – Menden (NRW; 4260),
- Dillingen – Primsweiler (SR; 4171),
- Berlin-Wannsee – Stahnsdorf (B/BB; 3810),
- Bedburg – Elsdorf West (NRW; 3611),
- Abzw. Merzbrück – Würselen – Aachen Nord (NRW; 3519) und
- Abzw. Kellersberg – Siersdorf (NRW; 3452).
Vielfältige Kriterien
Bei der Reaktivierung von Bahnstrecken werden verschiedene Kriterien berücksichtigt. Zunächst spielen die Lage der Strecke und ihre Verbindung zu wichtigen Verkehrsachsen eine zentrale Rolle, wobei ein besonderer Fokus auf die Anbindung von Mittelzentren an Oberzentren gelegt wird. Die Attraktivität des zukünftigen Schienenverkehrs im Vergleich zum aktuellen Angebot, wie dem Busverkehr, ist ebenfalls entscheidend. Der Aufwand der Reaktivierung, sowohl finanziell als auch logistisch, sowie potenzielle Risiken, wie rechtliche Konflikte durch Entwidmung, müssen geprüft werden.
Zudem wird untersucht, ob durch die Verlängerung bestehender Zugverbindungen kostengünstigere Betriebsoptionen geschaffen werden können. Ein weiteres Ziel ist die Aufwertung des ÖPNV durch die Integration der reaktivierten Strecken in ein Grundnetz des Bahn-Regionalverkehrs, was positive Effekte auf das Busnetz haben kann. Eine Entlastung überlasteter Straßen oder paralleler ÖPNV-Strecken wird ebenfalls angestrebt. Der Nutzen für den Fern- und Güterverkehr auf der Schiene, beispielsweise durch Erschließungen oder Umfahrungen stark frequentierter Strecken, wird ebenfalls berücksichtigt. Die Reaktivierungs-Vorschläge werden in drei Prioritäten eingeteilt: „dringlich“, „hoch“ und „potenzieller Bedarf“. „Dringliche“ Strecken sollen sofort reaktiviert werden, da sie großes Potenzial bei moderatem Aufwand bieten.
Die vierte, überarbeitete Neuauflage „Auf der Agenda: Reaktivierung von Eisenbahnstrecken“ steht hier zum Herunterladen bereit.
Text: Allianz pro Schiene/VDV/red, Bild: Deutsche Bahn AG/Volker Emersleben