Im Zeitraum vom 11. August bis zum 5. November 2023 wurden deutschlandweit mindestens 105.000 Minuten unbesetzter Stellwerke dokumentiert – das entspricht fast 73 Tagen. Die Dunkelziffer ist unbekannt, denn der Betreiber DB Netz veröffentlicht keine Daten. Die Datenauswertung stützt sich deshalb auf Ausfallmeldungen, die dem Interessenverband „DIE GÜTERBAHNEN“ von ihren Mitgliedern zur Verfügung gestellt werden. Die Daten stellen daher ein „Mindestens“ beim Ausmaß der Problematik dar. Neele Wesseln, Geschäftsführerin der GÜTERBAHNEN, sagte bei der Vorstellung der Erhebung am 14. November 2023: „Neben dem maroden Netz und vielen Baustellen werden nicht- und unterbesetzte Stellwerke immer mehr zum Treiber für die vielen Verspätungen. Wir fordern die DB Netz auf, Personal aufzubauen, die Stellwerke durchgängig zu besetzen und im Falle einer Nicht-Leistung finanzielle Kompensationen an die Eisenbahnverkehrsunternehmen zu zahlen. Das entlastet die geschädigten Unternehmen und gibt der DB Netz einen finanziellen Anreiz, gegen Personalmängel vorzugehen.“
Bereits 2013 forderte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die DB auf, „dass ausgebildetes Personal da ist und dass man daran arbeitet, diese Personaldecke so auszustatten, dass auch in Krankheits- und Urlaubsfällen nicht jedes Mal Tausende von Menschen leiden müssen.“ Damals fiel ein Stellwerk in Mainz für mehr als eine Woche komplett aus, was zu massiven Verspätungen im gesamten Netz führte und das zuständige Mitglied des DB-Netz-Vorstandes um seinen Job brachte.
Trotz des Appells von oberster Ebene und dem Versprechen auf Besserung seitens der DB verschärfte sich die Situation in den letzten Jahren wieder und trägt zu Qualitätsproblemen im Eisenbahnverkehr bei. Neele Wesseln: „Nach Auswertung der DB-Watch vorliegenden Ausfallmeldungen sind im Durchschnitt für knapp siebeneinhalb Stunden pro Tag Stellwerke im Netz der DB unter- oder unbesetzt. Effektive Gegenmaßnahmen können wir hingegen nicht erkennen.“
Als Beispiel führt DIE GÜTERBAHNEN unter anderem das Stellwerk „Hanau Südseite“ in Hessen auf, das fast täglich unterbesetzt ist. In dem oben genannten Zeitraum war das Stellwerk für mehr als 373 Stunden nicht- bzw. unterbesetzt. Dadurch konnten an acht Gleisen keine Zug- und Rangierfahrten stattfinden. Doch nicht nur Bahnhöfe sind betroffen, sondern auch ganze Streckenabschnitte: Allein im September fielen die Stellwerke in Beilrode, Falkenberg und Rehfeld für über 300 Stunden aus. Dadurch war die Strecke Halle – Cottbus, die zu einer der wichtigsten internationalen Gütermagistralen von und nach Osteuropa zählt, an keinem einzigen Tag im September durchgängig befahrbar.
Insbesondere nachts fehlt es an Personal in den Stellwerken. Wesseln: „Das trifft vor allem den Schienengüterverkehr, denn dieser ist hauptsächlich nachts unterwegs. Die DB Netz verteilt die knappen Kapazitäten zugunsten des Personenverkehrs und schadet damit den Schienengüterverkehrs-Unternehmen.“ Die DB Netz scheint dabei weder kurz noch mittelfristig der Situation Herr zu werden, zeigt das Stellwerk in Düsseldorf-Derendorf. Bereits im Juli teilte die DB Netz den Verkehrsunternehmen mit, dass das Stellwerk vom 28. Juli bis mindestens zum 8. September täglich für mindestens fünf Stunden nicht besetzt ist.
Neben einer ungenügenden Personaldecke ist auch der hohe Personalbedarf wegen zu langsamer Automatisierung ein Problem. „Mithilfe von elektronischen oder digitalen Stellwerken könnte dem Problem entgegengewirkt werden, denn das dort eingesetzte Personal kann deutlich größere Netzabschnitte betreuen. Allerdings ist die DB Netz auch bei der Automatisierung der Stellwerke unpünktlich“, urteilt Wesseln. Die Zahl der elektronischen Stellwerke ist von 2020 bis 2022 nur von 469 auf 492 gewachsen und lediglich zwei der 2521 Stellwerke in Deutschland sind digitalisiert. Auf Anfrage der GÜTERBAHNEN, wann mit einer vollständigen Besetzung der Stellwerke zu rechnen ist, konnte die DB Netz keinen konkreten Umsetzungstermin nennen.
Bereits Anfang September haben DIE GÜTERBAHNEN eine Beschwerde bei der Bundesnetzagentur eingereicht, da die DB Netz ihrer gesetzlichen Pflicht, einen störungsfreien Zugang zur Schieneninfrastruktur bereitzustellen, nicht ausreichend nachkommt. Seitdem überprüft die Beschlusskammer Eisenbahnregulierung im Rahmen eines Verfahrens gegen die DB Netz die fortwährenden Zugangsprobleme.
Text: DIE GÜTERBAHNEN/red, Bild: Regionalverkehr